Dienstag, 24. August 2010

Aus der Klosterchronik: 24. August 1991 - Entführung einer alten Dame




Am 18. März 1991 ging, wie es ihre Gewohnheit war, die langjährige Schwester Oberin der für fast hundert Jahre in Ettal tätigen Augsburger Maria-Stern-Schwestern, Schwester Rigoberta, zur Mittagszeit in die Ettaler Basilika, um unserem Gnadenbild einen kurzen Andachtsbesuch abzustatten. Sie traute ihren Augen nicht, als sie auf das Gnadenbild blickte: es hatte sich so sehr, zu seinem Nachteil verändert …

Im Jahr 1991 ereignete sich ein spektakulärer Kriminalfall in Ettal. Lesen Sie den Bericht des damaligen Cellerars des Klosters, Pater Josef Kastner (1936-2004):

Wäre da nicht unsere Frau Oberin gewesen, die am 18. März um 2.00 Uhr nachmittags vor dem Gnadenbild stand und stutzte: „es darf doch nicht wahr sein, das kann doch niemals unser Gnadenbild sein, so entstellt und fratzenhaft!“ - wäre alles nicht so schnell angelaufen. (Anm.: Anstelle des altehrwürdigen Marmorbildnisses hatte jemand eine sehr billige Kopie an dessen Stelle im Hochaltar gestellt.) Eine gute Stunde schon nach der Entdeckung des Raubes waren die Polizeibeamten aus München und Weilheim am Tatort zur Spurensicherung, zur Eingrenzung des Tatzeitpunktes und zum Abfragen verdächtiger Wahrnehmungen.
Uns allen saß der Schock in den Gliedern. Unsere Frau Stifterin war geraubt. Das erste Mal seit über 660 Jahren. War es ein Raub? War es ein makabrer Scherz? Waren es Kunstdiebe oder Erpresser? Man tappte noch ganz im Dunkeln. Es begann eine fieberhafte Suche. Man ließ über die Medien suchen und suchte im Kloster. Jetzt kennen die Ermittler die Klosterspeicher, die Kellerverliese und weitverzweigten Kanalsysteme besser als viele von uns selber. „Wenn der Täter ein Erpresser ist, dann bekommen wir die Madonna wieder“, so meinten sie und sie sollten Recht behalten. Schon am nächsten Tag meldete sich ein Erpresser in barschem, befehlendem Ton. Es war ein Brief: genaue Anweisungen, keine Polizei, bei falschem Handeln drohte er mit immer währendem Verlust der Figur. Er hat uns wahrlich Furcht und Schrecken eingejagt mit diesem computergeschriebenen Text in englischer Sprache. Und doch keimen auch Hoffnungen auf: Es ist jedenfalls kein Irrer, mit dem wir es zu tun haben, kein Kunstsammler, der das Gnadenbild vielleicht für immer verschwinden lässt, er will einfach Geld, die Madonna ist ihm nur ein Pfand. Er braucht die Figur nur so lange, bis seine Geldgier befriedigt ist.
Nun kennt man den Gegner schon in groben Umrissen. Hat er die Figur wirklich? Er soll dies unter Beweis stellen. Gleichzeitig lauert man auf seinen ersten Fehler. Und der Fehler kommt. Will er Geld, muss er aus seiner Bedeckung heraus. Er muss einen Namen, einen Ort, eine Adresse angeben. So gibt er sich seine erste Blöße, indem er eine Adresse in Saudi-Arabien mitteilt. Dahin soll ein Scheck per Flugpost gelangen. Saudi-Arabien. Golfregion. Der Golfkrieg war erst kurz zuvor von diesem Land aus gestartet und mit Engländern, Amerikanern und Franzosen gegen Saddam Hussein gewonnen worden. Dort offenbar fühlte sich der Erpresser so sicher, dass er glaubte, dort nicht wegen seines Verbrechens verfolgt zu werden.
Er sollte sich gründlich irren. Der lange Arm der Fahnder fand dort Mittel und Wege, alle erforderlichen Informationen herauszufinden, die wesentlich dazu beitrugen, das Netz immer enger zu ziehen. Seine Bewegungen, seine beruflichen Verpflichtungen, seine Freizeit, seine Familienverhältnisse, alles von Bedeutung wurde registriert.
Es gab auch Phasen drohender Lethargie und Hoffnungslosigkeit, Unmut auch bei den Fahndern: „Er könnte doch wieder etwas von sich hören lassen!“ Er wird doch nicht aufgegeben haben? Hat er wirklich das Gnadenbild? In dieser Not haben wir auch offene Ohren für sicher gut gemeinte Ratschläge von Rutengängern, Pendlern, Traumdeutern und suchten nach vermeintlichen Verstecken in und um das Kloster, fuhren bis Südtirol oder kramten noch dieses oder jenes mögliche Versteck aus unserer Erinnerung heraus. Gottseidank wurde auch intensiv gebetet im Konvent, in der Pfarrei und Umgebung. Auch viele uns unbekannte Leute haben den Himmel bestürmt. Der Heilige Antonius wurde bemüht, der zuständige Heilige für verlorenes Gut, der Dismas, der rechte Schächer und Räuber am Kreuz, Spezialist für Diebe, sollte helfen. Und sie halfen offensichtlich. Der Täter begeht seinen zweiten und seinen entscheidenden Fehler:
Er reist mit dem Flugzeug von Saudi-Arabien in seine Heimat England. Es ist schon Juli. Datum des Fluges, Flugzeiten, Ankunftsort und Tag der Rückkehr werden zuverlässig ermittelt. So wird ein zweites Netz in England gespannt, in einem Land, wo vor dem Gesetz alle gleich sind, wo Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden, wo aber auch eine recht altertümliche Justiz vom Ausland her nur schwer in Bewegung zu bringen ist. Der Täter scheut auch keine Kisten, um uns seinen vierten Brief zuzustellen. Dafür fliegt er nach Amsterdam am 24. Juli, um uns zu belehren, dass er es satt habe mit unserer Hinhaltetaktik. Wenn bis zum 25. August das Geld nicht in Saudi-Arabien sei, werde die Figur für immer verloren sein. So war höchste Eile angesagt. Durch eine Mitarbeiterin bei Interpol wurde die englische Justiz aus ihrem Schlaf gerissen. Die dortige Staatsanwaltschaft wurde tätig und stellte den lang ersehnten Haftbefehl aus.
Aber schon war der Erpresser auf dem Weg zum Flughafen, um nach Saudi-Arabien zurück zu fliegen. Die englische Polizei fährt zum Flughafen, aber die Straßen sind heillos verstopft. Da kommt ein wahrer Schutzengel zur Hilfe, der Mitreisende des Täters telefonisch verständigt, sie sollen unbedingt Herrn Fisher zu einer Tasse Tee einladen, damit er das Flughafengebäude nicht verlässt oder das Flugzeug besteigt. Er lässt sich auf diese für ihn verhängnisvolle Tasse ein und vergeudet seine wertvollen Sekunden. Und in der berühmten letzten Sekunde endete seine Odyssee, sein Glücksspiel, sein Traum vom Leben mit viel Geld, da endete wohl auch seine Angst und sein Bangen: Die englische Polizei legt ihm die Handschellen an.
Die erlösende Nachricht trifft auch bald in Ettal ein und gibt Anlass zur größten Hoffnung. Aber was passiert, wenn der Häftling Nr. 3898 vom alten, schaurigen Gefängnis Pentonville von London über den Verbleib des Gnadenbildes schweigt? Und er schweigt auch dann noch, als ihm erdrückende Beweise vorgelegt werden. Will er nach seiner Freilassung erneut Kapital aus dem Besitz der Figur schlagen oder sie dann für immer verschwinden lassen?
ER berät sich mit seinem Anwalt und tut schließlich das, was ihm am ehesten Strafmilderung einbringen kann: Er gesteht seine Täterschaft in einem fünften Brief vom 4. August an das Kloster ein. Ein bemerkenswerter Brief, der so endet: „Meine aufrichtigen Grüße an alle von Kloster Ettal, an die Bevölkerung von Ettal und an das deutsche Volk. Vergeben Sie mir. Ich schäme mich sehr.“
Sein darin gemachtes Versprechen, die Madonna werde bis zum 10. September zurück sein, wird dann auch wahr an dem denkwürdigen Samstag des 24. August, dem Fest des Apostels Bartholomäus. An diesem Tag nämlich trifft eine ziemlich gute Lagebeschreibung eines Ortes in Oberammergau ein. Um 15.30 Uhr wird das Gnadenbild ausgegraben, eingehüllt in Zeitungen, farbigen Tüchern und außen mit schwarzer Plastikfolie zugeschnürt.
Das Herzstück Ettals, der Grundstein von Kloster und Dorf Ettal, das Gnadenbild unserer Frau Stifterin ist wieder an seinem ursprünglichen Bestimmungsort!

Das Gnadenbild wurde am 27. August von dem ehemaligen Ettaler Schüler und damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Max Streibl an Abt Edelbert Hörhammer übergeben, mit den Worten: „Dieses Gnadenbild blieb die Mitte und der Haltepunkt Bayerns, zu dem viele Menschen gewallfahrtet sind, um Trost und Schutz zu finden.“ Zur Re-Inthronisierung des Gnadenbildes am Vorabend des Festes Mariae Geburt, am 7. September, erschienen zahlreiche Menschen aus der Umgebung, Freunde unseres Klosters und etliche Ehrengäste. Einen besonderen Erweis der Anteilnahme darf man darin sehen, dass ein Freund des Klosters, der ungenannt bleiben wollte, 100.000,- DM zur Belohnung zur Wiederbeschaffung des Gnadenbildes ausgesetzt hatte.